đŸ„€Vanitas, stille Begleiterin…

oder: zwischen Jetzt und Endlichkeit.

Mit dem September steht auch der Herbst kurz bevor. Meine liebste Lieblings-Jahreszeit – und die vermutlich beste Metapher fĂŒr VergĂ€nglichkeit.

Sie ist allgegenwÀrtig sollte man meinen.

Im Alltag stets nur einen Schritt, eine Sekunde entfernt. Das letzte Blatt löst sich von der Rose, der letzte Atemzug wird getan. Der Punkt wird hinter den letzten Satz eines Abschiedsbriefs gesetzt, die Seelenflamme erlischt.

Er hat mir einiges voraus. Vergangene Woche hatte er einen nötigen und trĂ€nenreichen GefĂŒhlsausbruch. Als er mich danach anrief, Augen geschwollen, T-Shirt feucht vom Schwitzen als durch den Körper die Seele Reinigung und Heilung empfing. Da tat er mir nicht leid. Ich war froh und neidisch zugleich.

Seit Jahren befĂŒrworte ich Weinen. Und selbst wenn es sich bestimmt seltsam liest: ich liebe es zu weinen. Weinen reguliert unser Nervensystem. Es trĂ€gt dazu bei Hormone zu balancieren und anschließend klarer denken zu können. Dementsprechend können Erfahrungen besser integriert werden. TrĂ€nen sind wie Diamanten. Diamanten, die dĂŒrren Boden wieder kostbar und weich machen, damit der Samen ankommen oder der erste feine Trieb sich neugierig oder vorsichtig empor bringen darf. Diamanten, die fortspĂŒlen was schmerzt, die Wunden reinigen und Heilung initiieren.

Ein paar Tage vor dem Tod meines letzten Großelternteils auf dieser Erde, habe ich ihren Nachruf geschrieben. Bis zum Halten der Rede bei der Beerdigung wurden danach nur noch vereinzelte Worte geĂ€ndert. Die Gedanken und Erinnerungen kamen natĂŒrlich, flossen einfach so, wie meine TrĂ€nen. Denn an diesem Tag des Schreibens wusste ich, dass es bald geschehen wird. Der Tod war klar und deutlich unter uns.

Weder der Tod an sich, noch das Sterben oder vielleicht eine Angst davor haben mich weinen lassen. FĂŒr mich ist er einfach da. Ich weinte, weil mir die VergĂ€nglichkeit dieses Lebens schmerzlich bewusst wurde.

Das Gewahr werden der VergÀnglichkeit bringt uns zum Weinen.

Was ist ein Leben? Was bleibt von einem Leben? Wie kann ich die Zeit, die mir zur VerfĂŒgung gestellt wird, bestmöglich und dankbar nutzen? Womit will ich mein Leben fĂŒllen? Womit kann ich andere Leben bereichern? Wie kann ich es anstellen, dass wenn ich meinen letzten Atemzug atme, meinen letzten Satz beende, nicht in Angst und Trauer vor all dem Nichterlebten versinke?

Er hat mir stĂŒckweise von seinen Verlusten erzĂ€hlt. Zuletzt ein junger aufstrebender Kollege, ein Elternteil, ein Cousin, eine Tante. Das Bewusst werden, dass unsere Eltern und Familienmitglieder nicht jĂŒnger werden. (Wir selbst ĂŒbrigens auch nicht…) Dass auch verlorene Freundschaften uns so schmerzhaft erwischen.

Wie gestalte ich mein Leben nun also wertvoll? Friedvoll? Humorvoll? Respektvoll? Liebevoll?

Was kann ich aus dem Umgang mit VergÀnglichkeit gewinnen?

In vielen Momenten ist es fĂŒr mich so, dass es gar nicht um die Hinterbliebenen gehen kann oder das, was man hinterlassen hat. Also nicht die materiellen GĂŒter, die Geschenke oder Statussymbole. FĂŒr manche sind es Habseligkeiten. Auch nicht unsere Berufe, mit denen wir uns oft so sehr identifizieren, dass wir ab und an vergessen wer wir wirklich sind. Und unsere ganzen weiteren Rollen..

Was kann ich aus dem Umgang mit VergÀnglichkeit gewinnen?

Ich gewinne die Einsicht, dass wirklich jeder Tag mein letzter sein kann.

Klar, ich kann beim Straße ĂŒberqueren darauf achten nur bei GrĂŒn zu laufen oder den Schulterblick ernst zu nehmen. Ich kann mich gesund ernĂ€hren, Sport machen und all die Dinge erledigen, die gemeinhin als gesund oder lebensverlĂ€ngernd gelten. Doch die meisten Faktoren können wir schlicht nicht beeinflussen. Das heißt natĂŒrlich nicht, dass wir bei Rot ĂŒber die Ampel gehen, oder die Lampe montieren ohne die Sicherung herauszunehmen.

Ich gewinne die Einsicht, dass ich – wie es die Kalenderzettel so schön sagen – jeden Tag so leben und gestalten möchte, als wĂ€re es mein letzter. Dass ich mir, wenn es soweit ist, keine VorwĂŒrfe mache oder mein letzter Gedanke wird: „Ach hĂ€tte ich doch damals x oder y getan.“

Was heißt das nun? Was ist mein „call to action“?

Bei mir entstanden ĂŒber die letzten Wochen und Monate aufgrund dieser Gedanken und vieler haltgebender GesprĂ€che zusĂ€tzlich zur „bucket“-Liste noch einige Handlungsweisungen:

– Geduld ĂŒben: mit mir, mit anderen > auf das Leben / die Schöpferkraft vertrauen

– Loslassen ĂŒben:

– jetzt schon Gewohntes, also meine manchmal bequem erscheinende Komfortzone ganz bewusst zurĂŒcklassen  

– Neues eingehen, auch wenn ich es absolut nicht kontrollieren kann

– Muster kritisch hinterfragen und de- bzw. re-konstruieren

– ĂŒber jede Möglichkeit freuen, in der ich ĂŒben darf, auch wenn Wachstum oft schmerzhaft ist

– Akzeptanz von VerĂ€nderung: mein Lieblingswort ist nicht umsonst „Wachstumsschmerz“

– WertschĂ€tzung des gegenwĂ€rtigen Moments zelebrieren:

– auch nach Verletzungen Menschen die Möglichkeit geben mich zu lieben und selbst wieder neue Menschen zu lieben

– der Person an der Ampel das Kompliment aussprechen, dass mir zu ihrem Style oder Duft oder der Stimmung, die sie vermittelt, durch den Kopf geht

– mit mir selbst schwierige Themen angehen und andere Menschen rechtzeitig informieren, dass ich dabei ihre angebotene Hilfe annehme

– die OKF zum örtlichen goldenen M machen oder eine ganze Portion KĂ€se auf die Pizza zu schĂŒtten

– „das Lied“ oder „den Vers“ einfach zu droppen – selbst oder gerade unperfekt macht es den geteilten Moment wiederum perfekt

– das Gesicht der Sonne entgegen zu strecken, obwohl es eigentlich viel zu warm erscheint (an dieser Stelle bitte ich dich LSF zu verwenden! 😉 )

– die besondere Flasche Wein statt zu verwahren dann zu öffnen, sobald sich die Gelegenheit mit einem lieben Menschen ergibt

In vielem VergĂ€nglichen sehe ich das Vergangene. Das macht das Leben hĂ€ufig schwer. Und das darf und soll es auch sein. Erinnerungen und GefĂŒhle sind das, was die verschiedenen Welten verbindet. Doch auch die diesseitigen Verbindungen im Jetzt sind wichtig. Sie bilden und bedingen unsere Zukunft. Sie positiv zu gestalten ist wahrscheinlich noch wichtiger. Ich habe eine neue „bucket“-Liste begonnen, die sich schnell fĂŒllt. GlĂŒcklicherweise fĂŒhlt es sich nicht nach einer Mammutaufgabe an, sondern nach ganz vielen Möglichkeiten das Leben zu gestalten, auch wenn es unkontrollierbar und vergĂ€nglich ist.

So wie ich die Essenz der Menschen mir gegenĂŒber sehr schnell durch- oder erblicke, möchte ich mich selbst noch tiefer kennenlernen. Ich möchte mich und meine Werte in dem erkennen, was ich sage, tue und (er-)schaffe. Denn gerade weil das Leben und all das AufgezĂ€hlte so vergĂ€nglich sind, möchte ich es in vollen ZĂŒgen genießen und jeden Moment (nicht nur die schönen) auskosten und daraus lernen.

Schließlich ist mir wichtig zu betonen, dass das keineswegs bedeutet, dass ein Verlust oder Tod nicht schlimm sind. Oder dass VergĂ€nglichkeit eben einfach da ist.

Die Verluste der letzten Jahre auf meiner Seite haben mich teilweise betĂ€ubt und zeitweise abgestumpft. Leben sind zu Ende gegangen. Manche bevor sie ĂŒberhaupt richtig begonnen haben, manche zur Erlösung hin. Ich habe Freunde, Freude und phasenweise das Funkeln in mir verloren. Ich habe geweint, bis ich dachte, dass niemals mehr eine TrĂ€ne meine Augen verlassen wird.

Was mich an alldem zuversichtlich stimmt, ist, dass nach einem Herbst immer ein Winter folgt. Darauf folgt ein neuer FrĂŒhling und schon gesellt sich wieder ein Sommer dazu. Die VergĂ€nglichkeit ist allgegenwĂ€rtig. Die Lebendigkeit sollte es auch sein. Dort wo eine neue Blume wĂ€chst, verwelkt sie damit auch gleichzeitig bereits. Das trifft nicht nur auf die Rose zu, auch auf ihre Dornen. Ich hoffe du weißt, worauf ich hinaus möchte.

Jetzt stellt sich nur die Frage, wann bei mir die heilende Regenzeit einsetzt. Hier bleibt „Geduld ĂŒben“ der aktuelle Lernbereich. Und das Mantra einer meiner Supervisorinnen „Sei gnĂ€dig mit dir selbst.“, welches mich seit knapp zehn Jahren begleitet. Körperliche und emotionale Sicherheit fĂŒgen wir als geheime Zutat noch hinzu *sprinkle sprinkle* und fertig ist die Mischung.

So vergÀnglich das Leben auch ist: es darf auch alles andere sein. Wertvoll. Friedvoll. Humorvoll. Respektvoll. Liebevoll. Dann gewinnen wir. So oder so.

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